Die vergessene Mitte und ihr verborgener Text


1. Eine Frage. Geschichtsverlust und ästhetische Degradation

 

„Werden die Berliner ihre Stadt mögen lernen?“[1] Ausgerechnet eine so ungewöhnliche Frage stellte György Konrád in den Mittelpunkt seiner Festrede. Sein Thema: „Der zivilisatorische Sinn der Metropole“.[2] Anlass war 1997 die Eröffnungsgala des ersten Großprojektes nach dem Fall der Mauer, des Daimlercenters am Potsdamer Platz. Der Redner war als Präsident der Berliner Akademie der Künste hoch geachtet, als ungarischer Schriftsteller ein erprobter Liebhaber Berlins. Wollte Konrád in Renzo Pianos atemberaubender Kathedrale der Moderne und vor der Prominenz der neuen Berliner Republik etwa die Liebe der Berliner zu ihrer Stadt in Frage stellen? Wollte er Mangel an Lokalpatriotismus vorwerfen, ausgerechnet in jenen Tagen der Euphorie, der Freude nach dem Mauerfall, des Hauptstadtbeschlusses, der Verheißungen eines immerwährenden Baubooms? Superlative durchwogten die Stadt. Mit Fanfarenstößen war Berlin in den Kreis der Weltstädte zurückgekehrt war. Auch die symbolträchtige Eröffnung des Daimler-Centers erneuerte die Hochstimmung. Was also hatte Konrád im Sinn?

 

Es bedurfte wohl erst der Empathie eines großen Schriftstellers, um die Extremsituation und die einzigartige Herausforderung Berlins zu erspüren. Durch die Wiedervereinigung waren die Berliner unvermittelt in einer fremden Stadt aufgewacht waren, in der die eine Hälfte die andere weder verstand noch kannte. Auch das Wort von der „vergessenen Mitte“ bezeichnet das Fremdsein in der eigenen Stadt. Denn ohne das historische Zentrum existiert die Stadt als Ganzes nicht. Es ist der reale und symbolische Ort der Herkunft, das Narrativ einer gewachsenen Identität. Wie radikal die Stadt als Ganzes in der mental map gelöscht ist, kann leicht nachgeprüft werden. Die Berliner Abendschau fragte im Dezember 2009 Leute „in Mitte“, wie der große Platz vor dem Roten Rathaus heißt, an dem sie wohnen oder arbeiten. Keiner wusste, dass dieser Platz namenlos ist, und sie ahnten auch nicht, dass sie sich auf der mittelalterlichen Bürgerstadt befanden. Der Geburtsort Berlins anonym, ausradiert auch Namen wie „Neuer Markt“, die Statthalter des Gewesenen: radikaler kann sich kaum eine Stadt von ihrer Geschichte entfernen.

 

Gelöschte Erinnerungen haben Folgen: Die „vergessene Mitte“ ist buchstäblich nicht zum Anschauen, zum Vergessen. Die gotische St.Marienkirche, stolzes Relikt der ehemaligen Hansestadt, ist zum Fremdkörper am eigenen Ort degradiert. Sie versinkt förmlich im Boden, im Schatten von dreizehnstöckigen Plattenbauwänden. Der riesige Platz mit seinen überdimensionierten Wohn- und Geschäftsbauten am Rande wirkt wie ein ödes Trabantenstadtzentren, ein diffuser Raum, tendenziell verwahrlost, ohne Kraft die historischen Relikte und Großbauten zu versöhnen. Die Betontatzen der Eingangsbauten des Fernsehturms greifen nach St.Marien, als handle es sich um eine atheistische Demonstration. Diese schale Leere „einer von der Phantasie verlassene Steinbaukastenstadt“ [3](Robert Musil) ist das Endergebnis der „Ausschabung“[4] der Altstadt. Enstanden ist ein Anti-Zentrum, das die Stadtteile nicht bindet sondern auseinander treibt, ein Un-Ort, ein Raum für alles Mögliche, für Bierzelte, Eisbahnen, Werbeshows: Hässlichkeit als Rache des getöteten genius loci.: Verschärft wird die ästhetische Depravation durch die starke stadtbildnerische Artikulation rund um die vergessene Mitte mit dem barocken und klassizistische Spree-Athen oder der kleinstädtisch-barocken Dichte der Spandauer Vorstadt. Das Beklemmende ist, dass diese Degradation tatsächlich nicht gesehen wird. Das Auge sieht nichtt den clash der Proportionen zwischen Fernsehturm und Marienkirche, sieht nicht die Leere, in der sich das Stadt-Ganze auflöst. Und auch die Liebe zur Stadt.

 

„Im Nirgendwo, aus der Welt gefallen“[5], beschreibt Hoffmann-Axthelm den Un-ort, einem Parkplatz, mit Sperre und brüchigem Asphalt, an einer gigantischen Verkehrsfläche, nur Bordsteine und der Stumpf einer Akazie blieben vom Großen Jüdenhof. Jedoch Hoffmann-Axthelms These, dass „Berlin, was Geschichte angeht, auf Vergessen gestellt“ [6] sei, stimmt so nicht. Seit dem Mauerfall ist Berlin auf Geschichte versessen. Die Berlin-Literatur wächst in atemberaubendem Tempo. Historische Stadtrundfahrten und –wanderungen haben Konjunktur. Der riesige öffentliche Erfolg der archäologischen Grabungen am Petriplatz zeigt eine Wende zur Geschichte.

 

Doch dieses Geschichtsinteresse erlischt exakt vor der Altstadt. Die Grenze zwischen historischer Erinnerung und Amnesie und reproduziert dabei beinahe deckungsgleich die Demarkationslinie zwischen der barocken Residenzstadt und der mittelalterlichen Kernstadt. Die Geschichtsamnesie ist also asymmetrisch und wirkt geradezu widernatürlich. Nach der Wiedervereinigung hätten sich doch die Berliner an den gemeinsamen Wurzeln ihrer Geschichte begegnen müssen. Umso mehr verweist die partielle asymmetrische Amnesie auf Traumata und Verdrängungsmächte der Berliner Geschichte. Gehörte nach der Wende eine temporäre Geschichtsamnesie zum modus vivendi? Jedenfalls ist die vergessene Mitte ein Palimpsest, dessen verborgener Text eine Geschichte von Zerstörung und Moderne birgt.

 

2. Trauma und Utopie. Die Ideologie der liquidatorischen Moderne.

 

1945. Der Untergang war der Anfang. Die Ruinen des Kriegsschauplatzes Berlin; 1945, die Stunde Null; die Radikalität der Katastrophe forderte einen radikalen Neuanfang, wenn nicht für die deutsche Gesellschaft, dann doch für Berlin. Greifbar war nun die Utopie der Neuen Stadt, die schon in den 20er Jahren erträumt wurde und schon damals verbündete sich die Stadtplanung mit Stadtzerstörung. Bruno Tauts Siedlungsvisionen sprechen eine aggressive Sprache. Das Frontblatt seiner Denkschrift 1920 (Die Auflösung der Städte oder Die Erde eine gute Wohnung) zeigt bombardierte Häuser. Text: „Lasst sie zusammenstürzen, die gebauten Gemeinheiten!“ [7]Ungeduld, ja beinahe moralische Empörung schwingen in Martin Wagners Ausruf mit: „Die City einer Weltstadt auf Grundlage der Lebensraumgrenzen und Eigentumsgrenzen des Mittelalters!“ [8]Wagner focht für die „moderne Maschinenstadt und Weltstadt“ (Martin Wagner in: „Das neue Berlin“), die nicht mehr auf den „Fußgänger“ und „kleinen Bürger“, sondern auf „Maschinen“ und das Kollektiv zugeschnitten ist. Mit einer bemerkenswerten Obsession plante die Ära Wagner Strassendurchbrüche, um ausgerechnet die relativ kleine Altstadt für den Durchgangsverkehr zu öffnen – ein Gedanke, der noch heute Verkehrsplaner beherrscht.

 

Wie sehr Stadtplanung auf Altstadtzerstörung zielte, haben die Arbeiten von Harald Bodenschatz und Benedict Goebel ausgeleuchtet. Da die Stadtplanung sich immer wieder ohnmächtig überrollt sah von kapitalistischen Wachstumsschüben, Immobilienspekulation und Massenelend politisierte und radikalisierte sich unvermeidlich. Schlüsselerfahrung war, wie James Hobrechts Traum vom Boulevardkunstwerk mit modernster Abwassertechnologie, das mit Paris konkurrieren sollte, sich in den Albtraum der Mietskasernenstadt mit düsteren Hinterhausreihen hinter wilhelminischen Prachtfassaden verwandelte. Werner Hegemann, der „verspätete Jakobiner“ (Benjamin) verwarf das „steinerne Berlin“ als daher totale Fehlentwicklung (der Titel seines berühmten Buches). Mit dem Ziel einer radikalen Lösung der Wohnungsfrage wurde letztlich die Stadt selbst zum Gegenstand eines revolutionären Umsturzes.

 

Aber trotz aller Verkehrsdurchbrüche hatte der historische Stadtgrundriss 600 Jahre überlebt, wie es die kompakte Kontur des mittelalterlichen Stadtkerns auf dem berühmten Luftbild von 1920 zeigt. Die Modernisierungen waren immer nur Transformationen. Gegen die „Maschinenstadt“, die Moderne und ihre „Verhaltenslehre der Kälte“[9] (Helmut Lethen) mit ihren funktionellen Stadtutopien bewegte sich der „Wärmestrom“ (Ernst Bloch), die Liebe zur Stadt. In der wachsenden Weltstadt entwickelte sich auch eine neue Begeisterung bei den intellektuellen Eliten für die Berlin mit seiner jungalten Widersprüchlichkeit. Berlin wurde zum Kulturideal. Werke wie August Endells „Schönheit der großen Städte“, Walter Benjamins „Berliner Kindheit“, Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“, die Flanagen Franz Hessels spiegeln diese moderne und keineswegs nostalgische Stadtleidenschaft.

 

Stadtplanungsgeschichte darf nicht mit Stadtgeschichte gleichgesetzt werden. Wer post festum eine lineare Logik der Zerstörung von der Industrialisierung bis zu den DDR-Planungen unterstellt, verfehlt die historische Zäsur 1945. Nicht Veränderung, sondern Extermination der Stadt stand nun auf der Agenda. Aber die tabula rasa für eine neue Stadt gab es gar nicht. „Die inneren lebenswichtigen Organe des Lebewesens Großstadt…(waren) unzerstört“.[10] So war es die moralische Katastrophe, die Schuld, die man vergessen wollte, die die Liquidation der alten Stadt rechtfertigte. Die Bomben als Gottesurteil. Die Katastrophe veränderte alles, auch die Rolle der Planer. Auftraggeber war nun die Geschichte selbst. Die große Zäsur verwandelte Stadtplaner in Gesellschaftspolitiker, die den Fortschritt planten. Infiziert vom Totalitarismus der Zeit herrschte auch bei den Planern der Geist der Säuberungen. Die Wortwahl, mit der Hans Scharoun den Kollektivplan 1946 vorstellte, verrät das: „Nachdem die Bombenangriffe eine mechanische Auflockerung (!) vollzogen haben, besteht die Möglichkeit, eine Stadtlandschaft zu gestalten.“[11] Der historische Stadtgrundriss sollte vollständig ausradiert werden, um die neue Stadt in das Urstromtal einzubetten. „Historie wurde“, so Wolf Jobst Siedler, „durch Erdkunde ersetzt. Scharoun erhob den Neandertaler zum Generalbaumeister Berlins.“[12] Dieser Kollektivplan war die Magna Charta der Geschichtstilgung.

 

Noch zehn Jahre nach Kriegsende herrschte der Drang zur Säuberung. Bei der Eröffnung der Interbau 1957 rechtfertigte Theodor Heuss einen Totalabriss so: „Denn das sogenannte Hansaviertel … gehört zu jenen Stadteilen…, die schlechterdings keinen künstlerisch oder auch nur lokalhistorisch interessanten Baukörper enthielt. Also war nur an Zukunft zu denken; die Planer blieben von Einsprüchen verschont.“[13] (T.H. in: Interbau Berlin 1957, p.12). Der ehemalige Sekretär von Hans Poelzig wusste es besser. Alle bekannten Architekten der Kaiserzeit wie Ende, Böckmann, Grisebach oder Messel hatten in dem beliebten Wohnquartier Berliner Bildungsbürger gebaut. Das „nicht einmal lokalhistorisch interessant“ wurde zum Menetekel für die ganze Stadt. Die liquidatorische Stadtplanung überzog ganz Berlin mit geschichtslosen Neubauvierteln unter Preisgabe des historischen Stadtgrundrisses und seiner Maßstäbe, vergessene Viertel, besiedelt über die „Lebensraumgrenzen“ hinweg.

 

Erst Ende der 70er Jahre begann mit den Kreuzberger „Instandbesetzungen“ und der behutsamen Stadterneuerung eine Umkehr und Revision, begann eine Rehistorisierung der Stadt. Nur die „vergessene Mitte“ blieb als letzte Bastion einer liquidatorischen Stadtutopie zurück. Sie ist noch immer okkupiert vom Anspruch eines gesellschaftlichen Fortschritts der „sozialistischen Mitte“. Ihn sehen Bewohner rund um das Rote Rathaus eher als das liquidierte Mittelalter. Die engen alten Strassen am Hackeschen Markt verabscheuen sie. Ihnen leuchtet noch immer die untergegangene Sonne der Moderne.

 

3. Teilungsbedingte Amnesie.

 

Der wichtigste Grund für das Vergessen der Mitte ist vielleicht zu banal, um erkannt zu werden: das Fortwähren des geteilten Selbstverständnis Berlins. In der mental map, der verinnerlichten Stadtgeographie, liegt die historische Mitte weiterhin im Osten – im Widerspruch zum Stadtgrundriss. Diese Transplantation des historischen Stadtherzes gehört zur Tiefenwirkung der Mauer. Dass die DDR für das Abräumen der Altstadt verantwortlich war, lag allerdings nicht an einer besonders radikalen Geschichtsaversion sozialistischer Planungen, sondern an der weltpolitischen Lotterie bei der Verteilung der Alliierten Sektoren. Der DDR fiel allerdings der bedeutendste und prekärste Ort zu. Mit der Teilung begannen der Wettstreit der Systeme um den Aufbau eines besseren neuen Berlin. Für die DDR war es zunächst die Stalinallee, die als Vorbild der „sozialistischen Stadt“ die neue Gesellschaftsordnung zeigen sollte. Westberlin setzte die internationale Architektur der Interbau im Hansaviertel dagegen. Mit der Sprengung des Schlosses 1951 wurde gleichwohl das Ende der Altstadt vorentschieden und Siedlers Diktum „Berlin ist das Schloss“auf traurige Weise bestätigt. Das historische Zentrum geriet in den Focus der DDR-Planer, weil 1957 die Bundesrepublik und der Westberliner Senat den Wettbewerb „Hauptstadt Berlin“ auslobten. Mit der Ausschreibung des „Ideenwettbewerbs zur sozialistischen Umgestaltung des Zentrums der DDR, Berlin“ 1958 wurde nun die Vernichtung der Altstadt durchgeplant. Der Entwurf für das Marx-Engels-Forum 1959 wollte gar das Nikolai- und Heilig-Geist-Viertel in künstlichen Seen ertränken. Die letzte Fassung der Staatsachse mit Fernsehturm und Palast der Republik verschmolz die Utopie der modernen Metropole mit dem symbolischen Bild einer sozialistischen Staatsmitte, die Konsum (Fernsehturm), Erholung (Park) und Staat (Palast der Republik und Außenministerium) harmonisch vereint. Die gesäuberte, neu geordnete der Stadt wurde umrandet vom „modernen Wohnen“. Das war der neue Text der Mitte. Westberlin eskamotierte zur selben Zeit mit dem Ideologem von der polyzentrischen Stadt jede Vorstellung eines gemeinsamen historischen Zentrums. Solange noch nach 1989 die Regierungsbauten standen, existierte die Staatsachse ohne DDR. Erst mit ihrem Abriss schwindet nun die Schrift; hohe Zeit, sich um den Original-Text zu kümmern.

4. „Ohne Geschichte aber alt“. Weltstadt gegen Altstadt oder die Schwäche der Bürgerschaft

 

Eine Attrappe genügte 1996, um das Bild des gesprengten Stadtschlosses in das allgemeine Gedächtnis zurückzuholen. Eine vergleichbare Operation ist mit der Altstadt kaum vorstellbar. Denn sie hat kein Stadtbild im kollektiven Gedächtnis und kein Vermächtnis. Hinterlassen. Das verweist auf eine lange Vorgeschichte der Ablehnung der Altstadt durch die Bürgerschaft. Die Meinung von Theodor Fontane 1862, es gebe „höchstens acht bis zehn Häuser“, die „eine verhältnismäßige Zierde bildeten“, war typisch. Ansonsten sei die mittelalterliche Stadt „meist eng, lichtlos, schmutzig, gemeinhin eingefasst von Pfützen und Düngerhaufen“ gewesen.[14] Sie lag immer im politischen und stadtbildlichem Schatten des Stadtschlosses. Alle urbanistischen Anstrengungen bis hin zur Vision von Spree-Athen fanden in den barocken Stadterweiterungen im Westen, in der Residenzstadt statt, „einem den Hohenzollern würdigen Schemel an ihrem Throne.“ [15] Und die Bürger drängte es zum Hohenzollern-Schemel; ihre natürlichen Flanierräume waren der Gendarmenmarkt oder das Forum friederizianum. Selbst seine Helden, die Märzgefallenen 1848, bahrte das Bürgertum nicht etwa auf dem mittelalterlichen Neuen Markt auf, sondern auf dem friderizianischen Gendarmenmarkt.

 

Auf dem Weg zur Industriemetropole drang die Bürgerschaft in einer Mischung von Weltstadtanspruch und Scham über mittelalterliche Rückständigkeit immer stärker auf Modernisierung und Abriss. [16] Als Karl Gutzkow, politisch verfolgter Schriftsteller des „Jungen Deutschlands“, 1844 die „Weltstadt Berlin“ ausrief,[17] beklagte er sich zugleich über die „innere Stadt“ als Ort des Sittenverfalls und der kriminellen Milieus. In einer „Ästhetik des Hässlichen“ (1873) fand er, die Hauptstadt sei nicht repräsentativ genug: „alles ist arm, unschön, unkaiserlich.“ [18] Die Weltstadtobsession trieb auch später die Moderne. In dem von Martin Wagner 1929 herausgegebenen programmatischen Buch „Das neue Berlin“ wimmelt es nur von „Weltstadtcharakter“, „Weltstadtplanung“, „Weltstadtgeist“ oder „weltstädtischem Verantwortungsgefühl“[19], um gigantische Verkehrsdurchbrüche zu rechtfertigen. J. Heinrich Bettziech, Pseudonym „Beta“, zur selben Zeit ein Weltstadtschwärmer wie Gutzkow, schenkte damals den rigorosen Stadtplanern einen einen bequemen Geschichtsbegriff: „diese moderne Weltstadt, dieses Berlin hat als …Lieblingskind der neuesten deutschen Cultur und Civilisation eigentlich keine Geschichte. Es ist zwar schon ziemlich alt, aber das alte Berlin ist nur die Puppe, aus welcher der buntscheckige Schmetterling der gegenwärtigen, zukunftsreichen Weltstadt … keck und kräftig hervorkroch“.[20] Die historische Stadt als Puppe gesehen ist ein Generalpardon für ihre Liquidation: vergesst die Larve und seht den Schmetterling - bis hin zur „sozialistischen Staatsmitte“! Der Quellcode des Vergessens.

 

Der heruntergekommene Zustand und der Umgang mit der Altstadt spiegeln wieder, wie wenig die Bürgerschaft als Protagonist einer bürgerlichen Tradition in Frage kam. Seit der gescheiterten Revolte gegen die Landesherrschaft der Hohenzollern, dem „Berliner Unwillen“, hatte sie das politische Mandat für das Gemeinwesen verloren und konnte nur ihre egoistischen Interessen als Hauseigentümer verwalten. Geradezu symbolisch war die blamable Art, wie die Bürgerschaft den Abriss ihrer Ikone, der Gerichtslaube, durchsetzte. Sie ließ sie zur Latrine („Geruchslaube“) verkommen, um sie schließlich 1871 mit dem Verweis auf die Reichshauptstadtansprüche abzureißen. Dieses „Verkehrsopfer“ war die Ursünde, der Anfang einer traurigen Abrissfolge [21].

 

Aber zu einem gerechten Bild gehört auch das vielseitiges lokalpatriotisches Engagement, dass die neue Reichshaupt prägte: stadtarcheologische Grabungen, Ausbau der Denkmalpflege, Blüte der Geschichtsvereine. Zur Gewerbeausstellung von 1896 wird im Treptower Park sogar 1/12 der Altstadtfläche des mittelalterlichen Berlins „mit historischer Treue“ vom Spandauer Tor bis zur Gerichtslaube wieder aufgebaut. Als bedeutende Institution der Landeskunde wurde 1874 auf Initiative des Arztes und liberalen Politikers Rudolf Virchow das Märkische Museum gegründet. Aber kam damit die Balance „des richtigen Erhaltens und richtigen Zerstörens“[22], auf die Gutzkow 1973 hoffte? Kaum. Alle Begeisterung für Heimatkunde erreichte nie den Punkt, um ernsthaft die Stadt- und Verkehrsplanung der modernen Weltstadt mitzugestalten. Die Katastrophen des 20.Jahrhunderts haben dann die Ohnmacht der Bürgerschaft in ihre Selbstvernichtung münden lassen. Die Altstadt hatte keine Lobby. So blieb nach 1945 die Schlösserdirektorin Margarete Kühn, die die Ruine des Charlottenburger Schlosses vor dem Abriss rettete und damit den Wiederaufbau ermöglichte, eine absolute Einzelkämpferin.

 

5. Werden oder Sein? Die große Umkehr

 

Berlin, die Weltstadt, die „ewige Kolonialstadt“ mit ihrer „protestantischen Härte“ (Ernst Bloch), die „amerikanischste Stadt des Reichs“ (Karl Scheffler) kultivierte den Traditionsbruch. „Verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein“[23] - dieser immer wieder zitierte letzte Satz aus Schefflers Berlinbuch (1910), wurde im Nachkriegs-Westberlin zum Mantra der Modernität erhoben. Die Mauerstadt setzte dergestalt der lebensverengende Insellage eine heroische Identität entgegen: als Laboratorium der Moderne; mit offenen Räumen für die Kreativen, für alternative Milieus, für die Avantgarde und für politische Radikalismen – alles Ingredienzien eines erfolgreichen Stadtmagnetismus, der selbst die Abwanderung der Großindustrie zu kompensieren vermochte. Es entstand ein hoch subventionierter dritter deutscher Zustand. Vergessen war erwünscht, denn jede stadtgeschichtliche Erinnerung hätte nur die prekäre Existenz und die Konfrontation mit der Ohnmacht der Stadt heraufbeschworen. Das Ideologem vom „Immerfort Werden“ wurde nach 1989 erfolgreich auf das vereinte Berlin übertragen. Philipp Oswalt, der Direktor des Bauhaus, hat zehn Jahre nach dem Mauerfall jene geschichtsfeindliche Stadtideologie zum Programm gemacht. „Die Leere ist der Modernisierung eingeschrieben. Wie eine Raupe die Schalen abwirft, liegt in modernen Metropole die Hüllen des Gestern herum.“ Sein Plädoyer für die „poröse Stadt“ mit „dissoziierten Elementen“ und „unverwertbaren Resträumen“ liest sich wie eine kritische Beschreibung der real existierenden „vergessenen Mitte.“[24] Aber es ist ein Nachruf auf das alte Westberlin. Das Vergessen der Mitte soll sein.

 

Was die Apologeten des Werdens ignorierten, ist die totale Verarmung der lokalhistorischen Alltagsausstattung des Berliners. Ausgerechnet nach 1989 wurde der letzte landesgeschichtliche Lehrstuhl und damit die Ausbildung in Heimatkunde abgeschafft. Es fehlen die Geschichten zur Geschichte, das Fibelwissen für Kinder über ihre Geburtsstadt. Die Anekdoten, Fabeln und Sagen, die ganze narrative Seite der Altstadt ist gelöscht.

 

Auch nach dem Fall der Mauer blieb die Rolle der Bürgerschaft unbesetzt. „Viel zu viel Staat“, wie Karl Schlögel klagte, beherrschte die Vereinigung der Stadt: die gemeinsame Verwaltung, die sozialstaatliche Gleichheit, den Nahverkehr, die Modernisierung der Infrastruktur im Osten. Die Bevölkerung, tiefer entfremdet, als sie ahnte, identifizierte sich nicht mit diesen Erfolgen, sondern beschäftige sich mit der Bedrohung ihrer Identität. Verostungsängste prallten auf Verwestlichungsfurcht. Auch diese Erfahrung gehört zu den verborgenen Texten des Palimpsests „vergessene Mitte“.

 

Abermals blieb dem Staat vorbehalten, die Vereinigung des Städtischen voranzutreiben: die Epoche von „Stimmanns Berlin“ [25](Hofmann-Axthelm), genannt nach dem Senatsbaudirektor Hans Stimmann setzte der Fraktion des Werdens das Seins entgegen: „Berlin ist und muss nicht erst erfunden werden.“ Der Staat bekam eine Avantgarderolle für die Rückkehr zur Stadtgeschichte und zum historischen Stadtgrundriss. Ein Motiv war Notwehr der Senatsbauverwaltung gegen die Wucht der ersten Investorenwelle und ihrer Architekturmoden. Historische Regeln des innerstädtischen Bauens wie die Blockrandbebauung und die Traufhöhengrenze wurden definiert. Der gern erhobene Verdacht, dass eine restaurative oder revisionistische Ideologie am Werk sei, stimmt dabei weder für die Akteure noch ihre Planungsphilosophie. Vielmehr ist es gerade eine moderne Einsicht, dass die historische Textur unverzichtbar für ein urbanes Leben.

 

Das Planwerk Innenstadt, 1998 verabschiedet, ist nicht nur umstritten sondern immer noch missverstanden. Übersehen wird oft, dass es, von der Planungsmethode abgesehen, das erste Programm zur Wiedervereinigung des städtischen Kontextes darstellt. Mit dem Verzicht auf Abriss strebt es eine Versöhnung der sozialistischen Bauschicht mit der Rekonstruktion des historischen Stadtrisses an. Eine neue liquidatorische Planungsidee, wie die Verfechter der „DDR-Moderne“ klagen, liegt nicht vor. Der Abriss des DDR-Außenministeriums und des Palastes der Republik hatte nichts mit dem Planwerk zu tun, sondern war eine Entscheidung des neuen Eigentümers, der Bundesrepublik. Das Planwerk bewahrt vielmehr die wichtigste innerstädtische Bedeutungsänderung durch die DDR: die großen Plattenbauten für Mietwohnungen. Entstanden ist mithin das Unikum einer Weltstadt, die im Zentrum einen großen Anteil an Sozialwohnungen hat.

 

Der Staat konnte mit dem Planwerk Innenstadt eine zeitlang eine Avantgarderolle spielen. Aber mit dem B-Plan zur Rekonstruktion des Viertels rund um den Molkenmarkt wird nun die unsichtbare Linie zur mittelalterlichen Kernstadt überschritten. Nun fragt es sich, wie kann der älteste Stadtteil wieder entstehen, wenn die meisten Berliner nicht einmal wissen, dass es ein Mittelalter gab? Nur mit Verwaltungsvorschriften und den Reißbrettern der Architekten, ohne den Enthusiasmus der Bürger, kann die Altstadt kaum entstehen. Ein aktives Gemeinwesens allein kann klären, was unter historischer Erkennbarkeit verstanden werden soll. Gerade das Planwerk sieht das Engagement der Bürger vor. Die Erinnerung an die „vergessene Mitte“ ist ein Imperativ für die Bürgerschaft.

 

Eine Geschichtsamnesie ist nie ein statischer Zustand. Schon wer von der vergessenen Mitte redet, beginnt sich zu erinnern. Mit dem Mauerfall fielen die Verdrängungsmächte und die in Archive und Museen verbannte Geschichte beginnt zurück zu kehren. Und das bedeutet eine stadthistorische Wende von atemberaubender Dimension. Nicht ohne Rührung kann man sehen, mit welcher Systematik und Ausdauer die Stadt und die Städter dabei sind, das vergessene historische Terrain zu erobern. Wo der Geschichtsverlust nach dem Kriege begann, setzte die Dekodierung durch die Berliner ein: an der Mauer. Nach zwei Jahrzehnten sind sie „in Mitte“, dem Endpunkt der Tiefenwirkung der Mauer, angekommen. Nicht mehr die Zukunft verdrängt die Vergangenheit, sondern sie wendet sich ihr zu. Die Katastrophengeschichte des 20.Jahrhunderts endet mit der Renaissance Berlins. „Natürlich liegt die Zukunft Berlins in der Vergangenheit“, erklärte der Architekt aus Venedig, Romano Burelli.

 

Die Suche nach dem verlorenem Ganzen kennt viele Wege: die großen Bauprojekte, stadtplanerische Wettbewerbe, die Schlossdebatte, die Grabungen, die historischen Spaziergänge der Berliner in ihrer Stadt, die zunehmende Erinnerungsarbeit. Eine Mixtur aus Planungen, Debatten, Baustellen der „Kanzler-U-Bahn“ und Rettungsgrabungen am Petri-Platz stoßen buchstäblich zum Boden der Stadtgeschichte vor. Die Magie der großen Stadt sorgt für die Wiederkehr ihrer verdrängten Geschichte. Der verödete Parkplatz am Rande der zehnspurigen Trasse der Grunerstrasse verwandelte sich plötzlich zum magnetischen Pol der Erinnerung, als Hofmann-Axthelms Buch „Der Große Jüdenhof“[26] erschien. Und die Vermutung, dass im Erdreich ein jüdisches Tauchbad[27] verborgen sein könnte, reichte aus, um die Rekonstruktion des ganzen Molkenmarktviertels politisch zu legitimieren.

 

Nach zweihundert Jahren der Westwanderung sowohl der Regierungseinrichtungen wie auch der Stadterweiterung kehrt sich die Richtung um. Nicht nach Osten, sondern in die Mitte. Und wer begonnen hat, das Pathos der leeren Räume im Zentrum zu lesen, wird ahnen, wie groß der Schritt einer Wende zur Vereinigung der Stadt sein wird. Das Gegenwartsbild der Stadt wird durchsichtig, auch um zu erinnern, welche Furien der Zerstörung im Kerngebiet Berlins tobten. Es wird nicht ohne Trauer abgehen. Aber all dies – auch die Trauer - wird zur Ausstattung einer neuen bürgerschaftlichung Haltung gehören, einer Bürgerschaft, die die Prüfungen ihrer Selbstzerstörung hinter sich hat. Berlin selbst wird die Berliner lehren, ihre Stadt zu mögen, meinte György Konrád, der Stadtfreund.

 



[1] György Konrád, Menschen in einem großen Haus; Sonderdruck, Berlin 1997, 12

[2] a.a.O.,10

[3] Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek bei Hamburg. 1978, 34

[4] Harald Bodenschatz; Alt-Berlin, Marienviertel, Rathausforum…Vortrag 10.07.2009

[5] Dieter Hoffmann-Axthelm; Der Große Jüdenhof, Berlin 2005, 9

[6] a.a.O.;10

[7] Bruno Taut; z.n.: Klaus von Beyme u.a.; Neue Städte aus den Ruinen, München 1992, 216

[8] Martin Wagner; z.n. Hans Stimmann; Berliner Altstadt; Berlin 2009, 43

[9] Helmut Lethen; Die Verhaltenslehren der Kälte, Frankfurt am Main 1994

[10] Ernst Radzio; in: Der Bauhelfer, 1946, H5, 11

[11] Hans Scharoun u.a.; Vorschlag zur radikalen Neuordnung Berlins, in: Neue Bauwelt 10, 1946. 3

[12] Wolf Jobst Siedler; Phönix im Sand, Berlin 1998, 58

[13] Theodor Heuss, in: Interbau Berlin 1957,12

[14] Theodor Fontane; Wie man in Berlin so lebt, Berlin 2000, 26f

[15] Karl Gutzkow, Berlin – Panorama einer Weltstadt, Berlin 1995, 77

[16] Benedict Goebel, Der Umbau Alt-Berlins zum modernen Stadtzentrum, Berlin 2003, 113 ff

[17] Karl Gutzkow; a.a.O., 34

[18] Karl Gutzkow; a.a.O., 82

[19] Martin Wagner, Adolf Behne; Basel 1988; 5

[20] J. Heinrich Bettziech; z.n. Benedict Goebel; Der Umbau Alt-Berlins; Berlin 1995; 38

[21] Benedict Goebel; a.a.O.; 115

[22] Karl Gutzkow; a.a.O., 83

[23] Karl Scheffler; Berlin – ein Stadtschicksal, Berlin 1989, 219

[24] Philipp Oswalt (Hrsg.); Berlin – Stadt ohne Form; München, New York, London 2000, 60

[25] Gerwin Zohlen (Hrsg.); Stadtbau. Die Stimmann Dekade Berlin 1991 – 2006, Berlin 2006, Dieter Hofmann-Axthelm, 158

[26] Dieter Hoffmann-Axthelm: Der Große Jüdenhof, Berlin 2005

[27] Dieter Hoffmann-Axthelm; a.a.O., 200 f